Hallo Rene,
um Dir und Deiner Mutter wirklich helfen zu können, habe ich erst nochmal eine Reihe Fragen:
- wie alt ist Deine Schwiegermutter?
-was macht sie beruflich, oder ist sie Rentnerin?
- wie lautet der genaue Befund?
- was ist bisher an Therapie gemacht worden?
- was wurden bisher für Untersuchungen gemacht und wie lauten die Befunde genau? wurde Sie schon mal neurologisch untersucht?
- hat sie Begleiterkrankungen? wie sieht der Rest der Wirbelsäule aus?
- was für eine OP-Methode hat man ihr in Bielefeld genau vorgeschlagen, von vorne oder von hinten?
Das waren jetzt ne ganze Menge Fragen, aber Du kannst sie mir ja ganz in Ruhe beantworten.
Mit der Information, die ich jetzt von Dir habe, würde ich sagen, abwarten mit der OP. Zum jetzigen Zeitpunkt, ohne jegliche Ausfälle, halte ich das nicht für zwingend notwendig.
Es könnte im schlimmsten Falle natürlich sowohl mit OP, als auch ohne OP zu einer Querschnittslähmung ab Th6 kommen. Das ist allerdings sehr sehr selten! In beiden Fällen beträgt der Prozentsatz unter 10%!!!
Diese Prozentzahl, die Euch da genannt wurde ist wohl auch eher etwas veraltet. Auf jeden Fall bei einer OP von vorne ist die Gefahr nicht so groß, dass es durch die OP zur Querschnittslähmung kommt.
Das Rückenmark ist zwar empfindlich, aber es ist auch nicht aus Zuckerwatte. Also ist es auch nicht so, dass jeglicher neurologische Ausfall irreversibel ist. Das hängt ab vom Ausmaß und der Dauer der Rückenmarkskompression.
In dieser Sache weiß ich in meinen Augen schon ganz gut, wovon ich rede, da ich immerhin zu den Unglücklichen gehöre, die durch einen BSV in der BWS (Th5/Th6) querschnittsgelähmt sind. Ich schreibe dir hier mal meine Geschichte.
Also, ich bin 28 Jahre alt und habe nun seit 2 Jahren eine inkomplette Querschnittslähmung ab Brusthöhe aufgrund eines Massenvorfalles in der BWS (Th5/Th6).
Im Mai 2006 wurde ich in den Niederlanden (Maastricht/Dr. Cornips) zwar erfolgreich operiert, aber leider kam die Operation für mich etwas zu spät, wie sich während und nach der Operation herausstellte. Durch den enorme, verkalkten Bandscheibenvorfall wurde das Rückenmark über einen Zeitraum von mehreren Monaten wohl zu sehr komprimiert, so dass es nun leider zum Teil irreparabel geschädigt ist.
Es hat mehrere Gründe, weshalb ich letztlich zu spät operiert wurde:
- wurde lange Zeit von Ärzten aufgrund meines Alters un Vorgeschichte nicht ernst genommen
- der Befund wurde unterschätzt und falsch interpretiert
- falsche Annahme meines Operateurs, dass verkalkte Bandscheibenvorfälle sich in Form und ausmaß nicht mehr groß ändern können
(mein vorher mäßig großer BSV hatte sich innerhalb von 5 Monaten wider Erwarten zu einem Massenprolaps mit enormen Ausmaß verändert)
- lange Wartelisten für die OP in den Niederlanden
- Mangel an potentiellen Operateuren in den Niederlanden
Ich habe also schlichtweg enormes Pech gehabt, dass es so weit gekommen ist. Mein derzeitiger gesundheitlicher Zustand beruht in sich auf einer Verkettung von tragischen Fehlinterpretationen, ärztlichem Fehlverhalten und Mißverständnissen. Mein Massenvorfall und zwei weitere kleine, nicht-operierte BSV (Th3/Th4 und Th4/Th5) beruhen wahrscheinlich auf meinem Ski-Unfall vor 7 1/2 Jahren und sind somit traumatischen Ursprungs.
Was mir passiert ist, kommt insgesamt ganz extrem selten vor!
Mit den Ausfällen in Beinen und Oberkörper fing das bei mir eigentlich so richtig an im Januar 2006. Da bin ich häufiger gestolpert, verlor oft mein Gleichgewicht und konnte im Dunkeln nicht mehr sicher gehen, ohne zu stürzen (Ursache war eine verminderte Tiefensensibilität und somit eine spinale Ataxie). In den Wochen danach wurde das Gefühl (Sensibilität) in Beinen, Füßen und Oberkörper immer schlechter bis hin zur kompletten Taubheit und es entwickelte sich eine Spastik in beiden Beinen. Letztlich gesellten sich da dann noch massive Lähmungserscheinungen in Rumpf und Beinen dazu, wodurch ich kurz vor der OP eigentlich so gut wie nicht mehr laufen konnte. Ich konnte nur noch 10-20 Meter mühsam mit Hilfsmitteln laufen. Ansonsten war ich auf einen Rollstuhl angewiesen. Last but not least hatte ich erhebliche Blasenprobleme (enorme Mengen an Restharn, Harnverhalt, spastische Blase), einen atonischen Darm (gelähmter Darm mit massiver Verstopfung) und eine sexuelle Dysfunktion.
Nun, 2 Jahre nach der Operation, kann ich zwar wieder etwas besser laufen, aber ich werde immer eine Behinderung behalten. Noch bin ich auch an guten Tagen für etwas längere Abstände außer Haus auf meinen Rollstuhl angewiesen. Wegen meiner neurogenen Blasenstörung habe ich vor 1 1/2 Jahren einen Blasenschrittmacher (S3-Stimulator) implantiert bekommen, so dass ich da zum Glück nicht mehr so große Probleme mit habe.
Wenn Deine Mutter bisher noch nicht bei einem Neurologen war, dann solltest Sie das mal in Angriff nehmen und eventuell sollte sie sich zur Sicherheit dann auch unter neurologische Kontrolle begeben. Ein Neurologe kann mit Tests und Untersuchungen (Messung der Nervenleitgeschwindigkeit mit SSEP/Somato-Sensorisch-Evozierte Potentiale und MEP/Motorisch-Evozierte Potentiale)schon ganz gut feststellen, wie es dem Rückenmark geht. Mittels MEP und SSEP kann man feststellen, wie viele elektrische Signale Die komprimierte Stelle im Rückenmark noch passieren können. Das ist wichtig, solange Deine Schwiegermutter sich konservativ behandeln lassen will! Dann hat sie eine gewisse Sicherheit, dass der Zeitpunkt für eine notwendige OP nicht verpasst wird. Diese Untersuchungen sind auch für die Verlaufskontrolle sehr wichtig, da eine Rückenmarksschädigung sich sehr schleichend entwickeln kann und man das selber oft gar nicht so bemerkt. Mit Hilfe dieser Untersuchungen lässt sich dann eine mögliche Verschlechterung sehr gut objektivieren.
Bei mir war die Nervenleitgeschwindigkeit sehr stark verlangsamt und teils kam da gar nicht mehr viel durch.
Operationen an der Brustwirbelsäule sind zwar im Umfang, Aufwand und Risiko nicht vergleichbar mit entsprechenden Operationen an der HWS und LWS, da es etwas komplizierter ist. Machbar ist da aber schon so einiges. Es gibt die Möglichkeit zum Transthorakalen Zugang (also von vorne durch den Brustkorb - so wurde es bei mir gemacht!), zum Costotransversalen (von der Seite) oder von dorsal mit einer Laminektomie oder Transpedikulärem Zugang (in beiden Fällen wird ein teil des Wirbelbogens entfernt mit anschließender Versteifung in dem Gebiet).
Es gibt zwar nur wenige Ärzte, Neurologen und Neurochirurgen, die Ahnung und Verstand von Bandscheibenvorfällen in der Brustwirbelsäule haben, aber einige gibt es schon.
In punkto Neurochirurgie/Wirbelsäulenchirurgie kann ich Dir folgende Adressen in Deutschland empfehlen:
1. Dr. Rosenthal in Bad Homburg/Hessen - Spezialist für operative Entfernung von Bandscheibenvorfällen in der BWS, transthorakales endoskopisches Operieren
2. Dr. Beise in der Unfallklinik in Murnau/Bayern
3. Dr. Nothwang in Göppingen
4. Dr. Weidner in Osnabrück
5. Dr. Harms in Langensteinbach
Wie Du siehst gibt es da schon einige fähige Ärzte. Wichtig bei der Wahl Deines Operateurs ist, dass er wirklich Erfahrung hat spezifisch mit Bandscheibenvorfällen in der BWS. Optimal wäre es dabei, wenn Du einen Operateur findest, der alle Zugänge solide beherrscht, sowohl von hinten, als auch von der Seite und von vorne.
Im Falle Deiner Schwiegermutter würde ich mehr zum ventralen Zugang (von vorne durch den Brustkorb) raten, da man bei diesem Zugang die beste Sicht auf das Rückenmark hat. Ihr Vorfall scheint ja eher etwas medial zu liegen und nach drei Jahren ist er vielleicht auch schon etwas verkalkt. Der Zugang von hinten wäre da bezüglich einer Rückenmarksschädigung durch die OP wesentlich riskanter.
Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich aber erstmal noch auf eine OP verzichten. Auch, wenn es nicht zur Querschnittslähmung kommt bei der OP, so ist trotzdem noch lange nicht garantiert, dass sie hinterher schmerzfrei ist. Nur bei Schmerzen würde ich also echt von einer OP an der BWS abraten!!
Nach der OP war ich 3 Monate schmerzfrei und war natürlich total glücklich deswegen. Ich hatte alle meine Schmerzmedis abgebaut, bis ich dann am Ende meiner Reha wieder starke Nervenschmerzen entlang der Rippen im Brustkorb bekam. Da man an ein Rezidiv oder einen meiner anderen beiden Vorfälle als Ursache dachte, wurde sofort ein CT gemacht zur Kontrolle. Auf dem CT war nichts Überraschendes zu sehen, was meine plötzlichen Beschwerden erklären würde.
In den Wochen nach der Reha wurden die Schmerzen dann immer heftiger, bis sie schließlich wieder so stark waren wie vor der OP.
Da mein Operateur ja in den Niederlanden ist, bin ich letztes Jahr im Januar schließlich zu Dr. Rosenthal gegangen, um mal seine Meinung zu hören. Er konnte mir auch nicht sagen, woher die Beschwerden kommen. Allerdings sagte er mir, daß es postoperativ leider recht häufig zu Interkostalneuralgien kommen kann. Erhöht würde dieses Risiko noch durch die OP-Dauer. Meine OP dauerte leider relativ lange (fast 5 Stunden). Die Rippenspreizer und Trokare, die bei der OP zwischen die Rippen gedrängt werden, quetschen den Nerv dann quasi gegen die benachbarte Rippe. Dadurch kann der Nerv entweder irritiert oder beschädigte werden. Das verursacht dann die Schmerzen.
Jetzt habe ich dir zwar einen ziemlichen Roman geschrieben, aber vielleicht kannst Du mit meinen Informationen und der Schilderung meiner eigenen Erfahrungen ja etwas produktives anfangen. Überlegt Euch gut, was ihr macht, wenn es um eine OP an der BWS geht.
Sollte es zu entsprechenden Ausfällen kommen, dann ist eine OP natürlich notwendig und es gibt nicht viel mehr zu entscheiden.
Ich wünsche Deiner Schwiegermutter gute Besserung und ich würde mich freuen, weiter von Euch zu hören.
Bei weiteren Fragen kannst Du Dich gerne bei mir melden.
Liebe Grüße von Nicoline