Bandscheiben-Forum

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> Der Chronische Schmerz, Epidemiologie und Versorgung in Deutschl
Tine
Geschrieben am: 24 Sep 2004, 14:56


BoardIngenieur
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Leider kann ich den Artikel auch wieder nur kopieren, da der Link ja sonst wieder weg ist. Ich glaube das war der Artikel der damals verschwunden war. Nur leider sind die Bilder und Skizzen nicht mit drauf.




Leitthema
Der Chronische Schmerz
Epidemiologie und Versorgung in Deutschland
M. Zimmermann1, 2

(1) Neuroscience and Pain Research Institute, Heidelberg
(2) Neuroscience and Pain Research Institute, Berliner Straße 14, 69120 Heidelberg


M. Zimmermann
Email: mzim@neuroscilett

Online publiziert: 27. Januar 2004

Zusammenfassung Unter der Erwachsenenbevölkerung in Deutschland gibt es 5 Mio. Patienten mit chronischen Schmerzen, bei denen der Schmerz zu erheblichen Beeinträchtigungen führt. Eine Vielzahl v. a. von psychosozialen Risikofaktoren begünstigt die fortschreitende Chronifizierung der Schmerzkrankheit. Die Schaffung der ärztlichen Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie hat zwar die Bedingungen für eine bessere Versorgung dieser Patienten geschaffen, jedoch lassen diese in der Qualität der ambulanten Medizin noch keine annähernd flächendeckenden Auswirkungen erkennen. Neue Ansätze gehen von multimodalen Therapiekonzepten für Patienten mit Chronifizierungstendenz aus, mit medizinischen, trainingstherapeutischen und verhaltenspsychologischen Komponenten, wie sie sich in den USA und neuerdings auch in Deutschland als sehr wirksam erwiesen haben. Das Göttinger Rücken-Intensiv-Programm (GRIP) wird als Beispiel für einen solchen Ansatz herausgestellt, das z. B. die Arbeitsfähigkeit wieder herstellt und die Kosten der fortdauernden medizinschen Versorgung auf weniger als 50% senkt.
Schlüsselwörter Schmerzkrankheit - Schmerzchronifizierung - Chronischer Rückenschmerz - Trainingstherapie - Sekundärprävention - Multimodale Schmerztherapie - Epidemiologie chronischer Schmerzen - Versorgungs-Qualität - GRIP


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Chronische Schmerzen—Häufigkeit und Folgen
Alle nachfolgend genannten Prävalenzangaben beziehen sich auf die Erwachsenenbevölkerung >18 Jahre, in Deutschland ca. 65 Mio. Menschen. Für die Jahresprävalenz von Schmerzen wurden Werte bis 75% ermittelt, die jedoch überwiegend einen geringen Krankheitswert haben. Bei einer Studie in den USA, bei denen auch das Ausmaß der schmerzbedingten Beeinträchtigungen erhoben wurde, gaben 8,1% andauernde oder häufige Schmerzen mit Behinderungen an [19]. Auf dieser Basis können wir in Deutschland unter der Erwachsenenbevölkerung von mindestens 5 Mio. Menschen mit starken Dauerschmerzen ausgehen, bei denen eine erhebliche Einschränkung des physischen, emotionalen und sozialen Lebensvollzugs besteht (Tabelle 1). Die chronischen Schmerzen führen zu einer häufigen und meistens auch kostenintensiven Inanspruchname des Gesundheitssystems ([20, 2]; Tabelle 1).
Tabelle 1 Chronischer Schmerz—Häufigkeit, Versorgung, Kosten
-
Mindestens 5 Mio. Erwachsene werden durch dauernde/häufig wiederkehrende Schmerzen im Lebensvollzug behindert. Versorgung überwiegend ambulant durch Haus- und Fachärzte

-
Bei mindestens 600.000 Patienten besteht eine fortschreitend chronifizierende Schmerzkrankheit. Versorgung multimodal durch Arzt für Spezielle Schmerztherapie

-
Geschätzte Kosten (Stand 1993) gesamt:
38 Mrd. EUR p.a., aufgeschlüsselt:


- für ambulante und stationäre Therapie
10 Mrd. EUR p.a.


- durch Arbeitsausfälle
20 Mrd. EUR p.a.


- durch Frühberentung
8 Mrd. EUR p.a.


Unter den 5 Mio. Betroffenen mit schmerzbedingten Behinderungen leiden etwa 600.000 an einer problematischen Schmerzkrankheit, bei denen ein hohes Risiko für die fortschreitende Chronifizierung besteht, oft ohne erkennbare oder auffällige körperliche Krankheitsfaktoren. Diese Patienten stehen unter hohem Leidensdruck, sie verursachen enorme Kosten durch Therapie, soziale Behinderung, Krankschreibung und Frühberentung. Sie benötigen multimodale Therapiekonzepte, um den Prozess der eigenständigen fortschreitenden Schmerzkrankheit anzuhalten oder umzukehren. Für diese Patientengruppe wurde von den Fachgesellschaften seit 1984 eine ärztliche Zusatzweiterbildung in Schmerztherapie gefordert.

Der Großteil der 5 Mio. Menschen mit Dauerschmerzen kann und muss durch niedergelassene Ärzte auf differenzierte Weise ambulant versorgt werden. Derzeit fehlen hierfür noch die Strukturen und das Wissen in der Ärzteschaft. Zur Abhilfe hat der Deutsche Ärztetag 1996 zwei bahnbrechende Empfehlungen beschlossen:– Einführung von Curricula gebietsspezifischer Schmerztherapie in die Weiterbildung aller ärztlicher Gebiete. Dies wurde bisher nur in der Anästhesiologie verwirklicht. Das Interesse an Fortbildung und Kompetenz in Schmerztherapie hat neuerdings jedoch in allen ärztlichen Gebieten nachweislich erheblich zugenommen, v. a. in der Neurologie, Orthopädie, Rheumatologie, Onkologie.
– Schaffung der Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie: Ärzte können (nach der Facharztweiterbildung) durch eine einjährige Zusatzweiterbildung an einer schmerztherapeutischen Einrichtung diese Qualifikation erwerben. Die Zusatzbezeichnung wird seit 1998 von den Landesärztekammern verliehen, seit 2003 auch in Bayern, Hessen und Nordrhein, jedoch noch nicht in Brandenburg und im Saarland.

Ärzte mit Spezialkenntnissen in Schmerztherapie gibt es seit etwa 1975, seit 1985 wurden diese Schmerztherapeuten von den Fachgesellschaften zertifiziert; ihre Konzeption ist als Vorstufe der Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie zu sehen. Für sie wurde 1994 die Schmerztherapievereinbarung zwischen KV und Krankenkassenverbänden eingeführt mit dem Ziel, angemessene kassenärztliche Rahmenbedingungen für die zeitaufwendige Versorgung chronisch Schmerzkranker zu schaffen.


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Chronifizierung von Schmerzen
Bei einem Teil der Patienten mit chronischen Schmerzen werden typischerweise die Schmerzen stärker und hartnäckiger, ohne dass dies durch eine entsprechend fortschreitende körperliche Krankheit erklärt werden kann. Es ist seit langem bekannt und mittlerweile gut durch Forschungsergebnisse belegt, dass bei diesen Schmerzkranken vielschichtige Chronifizierungsprozesse ablaufen (Tabelle 2), wobei somatische, psychische und soziale Mechanismen zusammenwirken (Fordyce 1995, [10, 13, 9, 18]).
Tabelle 2 Chronifizierung von Schmerzen—kann man sie umkehren?
-
Schmerzen neigen trotz vielfältiger Behandlung zur fortschreitenden Chronifizierung


Schmerzkrankheit

-
Mit Fortschreiten entsprechend den Mainzer Chronifizierungsstadien I–III sinkt die Wahrscheinlichkeit für Behandlungserfolge von 70% auf 25% [7]

-
Es gibt biologisch-medizinische und psychosoziale Mechanismen und Risikofaktoren der Chronifizierung [10, 18]

-
Multimodale Schmerztherapieprogramme können die Chronifizierung anhalten oder umkehren [5, 12]

-
Präventive Schmerztherapie, z. B. vor Amputation mit Nervenblockaden, kann das Risiko für die Entstehung von Phantomschmerzen reduzieren


Zur Erklärung/Beschreibung der Chronifizierungsprozesse wird heute ein biopsychosoziales Krankheitsmodell angewandt, bei dem eine Vielzahl von Risikofaktoren identifiziert und durch Studien belegt werden konnte [6, 15, 9, 10] ; Tabelle 3). Ein somatischer Faktor chronischer Schmerzen ist klassischerweise die Schwerarbeit, heute jedoch weitaus häufiger auch die ständige Unterbenutzung des muskuloskelettalen Systems durch die bewegungsarme Lebensweise bei Arbeit und Freizeit.
Tabelle 3 Risikofaktoren und Prädiktoren für die Chronifizierung von Rückenschmerzen—Metaanalyse von Studien. (Nach [18])
Risikofaktor
Positive Studien
Negative Studien
Index

Stresshafte Erlebnisverarbeitung
7
0
>7,0

Alkohol- und Drogen-Missbrauch
7
0
>7,0

Unzufriedenheit am Arbeitsplatz
7
1
7,0

Hohe Schmerzintensität
10
2
5,0

Lohnersatz, Entschädigung
14
3
4,7

Angst, angstbedingte Vermeidung
7
2
3,5

Depressive Störung
9
3
3,0

Höheres Alter
30
13
2,3

Schwere körperliche Arbeit
9
4
2,2


Der Index wurde aus dem Verhältnis der positiven zu den negativen Studien berechnet
Psychologische Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen sind z. B. Depressivität und Hilflosigkeit (Katastrophisieren) als Reaktion auf Schmerzen und andere Herausforderungen des Lebens, jedoch auch die Angst vor Schmerzsteigerung durch Bewegung, die schließlich zur zunehmend eingeschränkten Motilität führt (fear avoidance behavior).

Soziale Chronifizierungsfaktoren sind z. B. der sekundäre Krankheitsgewinn, den ein Patient als Folge seiner Schmerzen erhalten kann (z. B. vermehrte Zuwendung, Verbesserung der sozialen Rolle in der Familie), oder unbewältigter sozialer Stress.

Auch ärztliche Maßnahmen können zur (iatrogenen) Schmerzchronifizierung beitragen, z. B. unangemessene Operationen, Empfehlung der Bettruhe und Schonung, die Förderung einer passiven Einstellung beim Patienten, enttäuschte Heilungserwartungen, Nichtanerkennung des Schmerzes als Behinderungsgrund bei Begutachtungen (s. Jungck in [4]).

Beim Chronifizierungsprozess spielen auch unbewusste Lern- und Konditionierungsvorgänge eine Rolle. Die pathophysiologische Plastizität des Nervensystems liefert Modellvorstellungen für die Mechanismen der Schmerzchronifizierung.

Schmerzsyndrome, bei denen solche multifaktoriellen Chronifizierungen beobachtet werden können, sind z. B. Rückenschmerzen, Fibromyalgie, komplexe regionale Schmerzsyndrome (CRPS), Kopfschmerzen. Bei Kopfschmerzen lassen sich entscheidende Beiträge zur (vermeidbaren) Chronifizierung bereits im Kindesalter identifizieren.

Das heutige Konzept der eigenständigen Schmerzkrankheit impliziert, dass Chronifizierungsvorgänge ablaufen können, selbst wenn eine Schmerztherapie stattfindet. Es ist dabei wenig relevant, ob eine körperliche Grunderkrankung vorliegt, die den Schmerz (zunächst) erklären kann (z. B. Bandscheibenvorfall, Unfallverletzung).

Mainzer Stadien der Schmerzchronifizierung
Gerbershagen et al. am Schmerzzentrum Mainz haben für das Ausmaß der Schmerzchronifizierung ein empirisches Stadienmodell entwickelt, mit Einteilung des Chronifizierungsgrads in die Stadien I–III [7]. Sie verwendeten dabei nachprüfbare objektive Parameter aus der Lebens- und Krankengeschichte oder dem derzeitigen Verhalten des Patienten, z. B. die zeitlichen und räumlichen Dimensionen des Schmerzes, die Häufigkeit des Arztwechsels, die Anzahl von schmerzbedingten Krankenhausaufenthalten und Operationen, den Umfang und die Art der Medikamenteneinnahme. Das Auftreten der Parameter wird mit Zahlenwerten belegt, der individuelle Summenscore gibt das Chronifizierungsstadium an.

Mit dem Fortschreiten einer Schmerzkrankheit zu höheren Chronifizierungsstadien sinkt die Wahrscheinlichkeit für den Erfolg einer Schmerztherapie, und zwar von 70% (Stadium I) auf 25% (Stadium III). Nach den Erfahrungen des Mainzer Schmerzzentrums ist bei 60% der Patienten im Stadium II und bei 100% derer im Stadium III eine interdisziplinäre und multimodale Schmerztherapie erforderlich, um die weitere Schmerzkarriere zu unterbrechen.


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Soziale Folgen chronischer Schmerzen
Abgesehen von dem individuellen Leidenszustand und der eingeschränkten Lebensqualität führen chronische Schmerzen auch zu erheblichen Behinderungen, die sich in vielen Lebensbereichen auswirken, u. a. auch am Arbeitsplatz. Bei allen Industrienationen stehen Schmerzen an erster Stelle in der Statistik der Fehlzeiten, Krankschreibungen und Frühberentungen.

Die Belastungen der Volkswirtschaft sind erheblich. Der Nuprin Pain Report [17], die erste epidemiologische Studie über den Schmerz und seine Auswirkungen, hat für die USA unter den Vollbeschäftigten einen Arbeitszeitausfall durch Schmerzen von insgesamt 550 Mio. Tagen pro Jahr ermittelt. Auf die Bevölkerung Deutschlands umgerechnet ergeben sich so mindestens 220 Mio. verlorene Arbeitstage pro Jahr, eine Zahl, die gut mit den AU-Daten der deutschen Betriebskrankenkassen für 1993 und den Daten der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin für 1998 übereinstimmen. Die Kosten der schmerzbedingten AU-Tage, etwa 35% aller AU-Tage, schlagen in der deutschen Wirtschaft mit jährlich ca. 20 Mrd. EUR allein an bezahlten Vergütungsleistungen zu Buche.

Auch bei den Frühberentungen durch Erwerbs- und Arbeitsunfähigkeit bilden, nach Angaben des Verbands Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) für 1993, die Erkrankungen mit chronischen Schmerzen die größte Gruppe (Abb. 1): von insgesamt 272.000 Neuzugängen eines Jahres bei der Frühberentung entfallen demnach ca. 90.000 auf schmerzbedingte Behinderungen. Vor allem unspezifische Rückenleiden und Fibromyalgie haben dabei eine Spitzenposition.

Abb. 1 Frührentenzugänge 1993 wegen EU und AU: Insgesamt 272.202 Zugänge (Bundesanstalt für Arbeitsschutz 13/95)

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Nimmt man an, dass auch vom Bestand (1993) der insgesamt 1,9 Mio. Frührentner 1/3 schmerzbedingt ist, ergibt sich eine Belastung der Rententräger von 8 Mrd. EUR pro Jahr durch schmerzbedingte Erwerbsunfähigkeit.

Angesichts dieser Entwicklungen und Belastungen verdienen chronische Schmerzen die besondere Aufmerksamkeit unseres Sozial- und Gesundheitssystems. Es reicht nicht aus, sich mit der Existenz chronischer Schmerzen abzufinden und diese wie bisher unsystematisch zu behandeln. Vielmehr ist es erforderlich, durch Maßnahmen der qualitätsgesicherten Prävention und Frührehabilitation der fortschreitenden Schmerzchronifizierung entgegenzuwirken. Die Entwicklung eines Verbundsystems abgestimmter und konzertierter Maßnahmen, etwa nach der Intention der Disease Management Programme (DMP), sehe ich als entscheidende Zukunftsperspektive an [4].


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Realität der ambulanten Schmerztherapie heute
In einer Studie mit niedergelassenen Ärzten wurde die Ergebnisqualität der ambulanten Behandlung von Patienten mit chronischen Rückenschmerzen untersucht [14]. Bei Studienbeginn waren 20% der Patienten in Stadium I der Chronifizierung eingeordnet, 57% im Stadium II und 23% im Stadium III. Bei 65% bestand eine Minderung der Erwerbsfähigkeit, Rentenwunsch bestand bei 21% der Patienten, und 27% waren endgültig berentet. Die Studienärzte waren Orthopäden (49%), Allgemeinärzte (29%) und Neurologen (17%). Aufgrund der Rekrutierungsbedingungen muss man davon ausgehen, dass sie zumindest ein besonderes Interesse an der Schmerztherapie hatten, jedoch keine ausgebildeten Schmerztherapeuten waren. Es wurden konventionelle Therapiemethoden angewandt, z. B. Medikamente, therapeutisches Gespräch, TLA, Chirotherapie, KG, Akupunktur, Wärmetherapie, TENS.

Lediglich bei 30% aller Patienten konnten im Verlauf von 6 Monaten der vom Arzt frei gewählten Behandlung eine Besserung nachgewiesen werden, allerdings mit einer niedrigen Effektstärke, d. h. einer nur geringen Reduktion der Schmerzintensität und der schmerzbedingten Behinderung.

Das Ausmaß der schmerzbedingten Behinderung wurde durch die deutsche Version des Fragebogens Brief Pain Inventory (BPI) erfasst, die Ergebnisse am Anfang und am Ende der 6-monatigen Behandlungsphase sind in Abb. 2 dargestellt. Es zeigt sich nur eine geringe Verbesserung in allen Bereichen des Behinderungsprofils, mit Ausnahme von Beziehung zu anderen. Auch in der Dokumentation der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (mit dem Fragebogen SF-36) ergaben sich nur geringe Verbesserungen der Skalenwerte durch die 6-monatige Behandlung.

Abb. 2 Ergebnisqualität der konventionellen ambulanten Behandlung von 157 Patienten mit chronischen Rückenschmerzen bei 35 Allgemein- und Fachärzten [14]. BPI: Brief Pain Inventory, Fragebogen für die schmerzbedingten Beeinträchtigung. Erhebung bei Beginn und Ende der 6-monatigen ambulanter Behandlung: geringe Effekte!

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In der Bewertung der geringen Effektstärke wurde von den Autoren festgestellt, dass für die rekrutierten Patienten in den Chronifizierungsstadien II und III nach den Erfahrungen des Schmerzzentrums Mainz und den Leitlinien der Arzneimittelkommission der Deutschen Ärzteschaft [1] ein multimodales Therapieprogramm indiziert gewesen sei. Solche Behandlungsmöglichkeiten waren jedoch im strukturellen Konzept der bei der Untersuchung beteiligten Praxen nicht vorhanden, außerdem—und sicherlich entscheidend—fehlen entsprechende Leistungsziffern in der Gebührenordnung.

Multimodale Programme nach dem Vorbild des Göttinger Rücken-Intensivprogramms (GRIP) mit Komponenten der Trainingstherapie, Muskelkräftigung und Verhaltenstherapie können jedoch deutliche und nachhaltige therapeutische Ergebnisse bewirken.

Aus diesen und anderen Ergebnissen lässt sich folgern, dass bei einem erheblichen Teil der Patienten mit chronischen Rückenschmerzen die ambulante Behandlung derzeit unwirksam ist. In unserem Gesundheitssystem wird also eine ineffiziente Dauertherapie ad infinitum fortgeführt, es besteht der Verdacht, dass dies bei einem Teil der Patienten sogar zur fortschreitenden Chronifizierung beiträgt.


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GRIP—Multimodales Therapieprogramm für chronifizierte Rückenschmerzen
Flor et al. [5] haben 1992 in einer Metaanalyse multidisziplinäre Schmerzzentren evaluiert, die bereits seit ca. 1980 in den USA für Patienten mit chronischen Schmerzen multimodale Therapieprogramme verwirklichten. Solche Programme bestehen aus Bausteinen mit medizinischer Therapie, kognitiver Verhaltenstherapie und aktiver Trainingstherapie. Die Metaanalyse ergab, dass multimodale Therapieprogramme im Hinblick auf Effizienz und Nachhaltigkeit den unimodalen Therapien überlegen sind. Besonders auffällig war die Nachhaltigkeit der Programme, die auch in der Jahreskatamnese noch signifikante Ergebnisse zeigte.

Auch in Deutschland gab es ab 1980 vereinzelt multimodale Programme zur Schmerztherapie, die besonders für Rheuma- und Kopfschmerzpatienten angeboten wurden und aus Kombinationen von medizinischer (medikamentöser) Therapie mit psychologischen Behandlungsansätzen bestanden. Weite Anerkennung erhielt jedoch erst die mehrjährige Studie zum Göttinger Rücken Intensivprogramm (GRIP), die bei Patienten mit bereits stark chronifizierten Rückenschmerzen aufsehenerregende Ergebnisse erbrachte [12].

Das GRIP (Tabelle 4) besteht aus einem ganztägig über mehrere Wochen durchgeführten Programm mit aufeinander abgestimmten physiotherapeutischen, sportmedizinischen und verhaltensmedizinischen Bausteinen, das überwiegend als Gruppentherapie durchgeführt wird. Im Zentrum steht die Aufgabe, durch ein täglich mehrstündiges Kraft- und Ausdauertraining an Fitnessgeräten die posturale Muskulatur, v. a. die Wirbelsäulenmuskulatur zu stärken. In einem parallel laufenden verhaltensmedizinischen Training werden krankheitsfördernde Verhaltensweisen und Einstellungen bewusst gemacht mit dem Ziel, auch hier nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Dabei kommt es zu einer nachweisbaren Stärkung der Muskulatur, Erhöhung der Gelenkbeweglichkeit und zur zunehmenden Motivation, diese Aktivitäten auch im Alltag weiterzuführen.
Tabelle 4 Göttinger Rücken-Intensiv-Programm—GRIP—Erfolg bei chronischen Rückenschmerzen [11, 12]
-
Integriertes Therapieprogramm bei Patienten nach mindestens 3 Monaten AU wegen chronischer Rückenschmerzen mit


- Kraft- und Ausdauertraining


- Verhaltenstherapie


- Psychotherapie


- Medikamentöser Therapie (bei Bedarf)

-
Gruppenprogramm 4–6 Wochen, ambulant

Nach Abschluss des GRIP:

-
Inanspruchnahme des Gesundheitssystems geht auf weniger als 50% zurück

-
60% der Patienten kehren zum Arbeitsplatz zurück


- Vergleichsweise bei konventioneller orthopädischer Therapie nur 20–30%

-
Abwendung der Frühberentung also bei mindestens 30% der Patienten


Für das GRIP ist eine außerordentlich gute Ergebnisqualität gesichert (Tabelle 4). Aus einer Therapiegruppe von Patienten, die seit mehr als 3 Monaten wegen der Rückenschmerzen arbeitsunfähig waren, kehrten 60% wieder an den Arbeitsplatz zurück. Bei konventioneller Behandlung liegt die Rückkehrquote maximal bei 30%. Bei jeder vermiedenen Frühberentung im Alter von 50 Jahren werden bis zum Eintritt des normalen Rentenalters pro Fall ca. DM 240.000 an vorgezogenen Rentenzahlungen eingespart, im Durchschnitt alles Patienten, die in das Programm aufgenommen wurden, schlägt die eingesparte Frührente mit ca. DM 6.000 zu Buche. Hildebrandt et al. errechnen Kosteneinsparungen von ca. DM 35.000 pro Jahr und Patient, bei Vergleich der Kosten vor und nach der Behandlung [11].

Im Jahr nach der Teilnahme am GRIP geht die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen auf weniger als 50% des Aufwands der vorhergehenden Jahre zurück, außerdem verzeichnen die Teilnehmer eine nachhaltige Verbesserung ihres subjektiven Befindlichkeit. Selbst bei Fortführung des GRIP als jährlichem Auffrischungsprogramm kommt es zu einer erheblichen Einsparung von Kosten.

In Deutschland und der Schweiz gibt es mittlerweile zahlreiche weitere multimodale Behandlungsprogramme, die Effizienz, Ökonomie und Nachhaltigkeit dieses Ansatzes belegen (z. B. [13, 16]. Auch bei der bisher als weitgehend therapieresistent angesehenen Fibromyalgie gibt es ermutigende multimodale Therapiekonzepte [3, 18].

Auf der Grundlage solcher evidenzbasierter Versorgungsansätze für chronifizierte Schmerzpatienten kann bereits heute ein integriertes Versorgungsprogramm für eine sehr große, problematische und kostenintensive Gruppe chronisch Schmerzkranker aufgebaut werden, nämlich die Patienten mit fortschreitend stärker werdenden Rückenschmerzen. Ich habe hierzu bereits einen begründeten Vorschlag erarbeitet, der gerade veröffentlicht wurde [22].


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Fazit
Bei Patienten mit chronischen Rückenschmerzen kann ein multimodales Therapieprogramm mit medizinischen, verhaltenstherapeutischen und trainingstherapeutischen Bausteinen nachhaltige Besserungen des Krankheitszustands und -verlaufs erbringen, mit erstaunlichen Gewinnen an Arbeitsfähigkeit und Rückgang der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems. Demgegenüber ist die kassenärztlich machbare konventionelle ärztliche Therapie ineffizient und ohne Nachhaltigkeit. Zur künftigen Versorgung auch von anderen Patientengruppen mit Chronifizierungstendenz, z. B. Fibromyalgie, chronischem regionalen Schmerzsyndrom und Arthrose, ist eine radikale Umorientierung hin zu abgestuften Therapieprogrammen notwendig. Diese müssen flächendeckend und wohnortnah auch im ambulanten Setting verwirklicht werden [22].

Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein
PM
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